Dachau, 7.11.2010 - Gedenkveranstaltung der DGB-Jugend an die Opfer des Nationalsozialismus anläßlich des Jahrestages der ReichspogromnachtBilder

"Wir werden nie vergessen, worin sich diese Nacht von all den anderen Nächten unterscheidet"

Rede von Matthias Jena, Vorsitzender DGB Bayern, am 07.11.2010 im Rahmen der Veranstaltung der DGB-Jugend Bayern in der KZ-Gedenkstätte Dachau zum Gedenken an die Pogromnacht

„Worin unterscheidet diese Nacht sich von all den anderen Nächten?“ Seit Jahrhunderten singen jüdische Kinder diese Frage zu Pessach, und der Vater erzählt - getreu der überlieferten Geschichte - vom Auszug aus Ägypten, also über die Befreiung der Juden aus der dortigen Sklaverei.

Worin unterscheidet sich diese Nacht von all den anderen Nächten, dass wir ihrer seit Jahrzehnten gedenken?

Es ist die Nacht vom 9. auf den 10. November – vor 72 Jahren – als organisierte Schlägertrupps jüdische Geschäfte und Gotteshäuser in Brand setzen; unzählige Wohnungen demolieren und plündern, es ist die Nacht, in der Zehntausende Juden misshandelt, verhaftet oder getötet werden. Spätestens in dieser Nacht kann jeder in Deutschland sehen, dass Antisemitismus und Rassismus bis hin zum Mord offizielle Staatspolitik geworden sind.

Diese Nacht war nicht der Anfang der Barbarei, und heute wissen wir, dass viele noch schlimmere Tage und Nächte folgten. Wir gedenken und erinnern an die Shoah, die Deportation und Ermordung der europäischen Juden. Millionen Menschen jüdischen Glaubens wurden in den Jahren bis 1945 erschlagen, erschossen, vergast.

„Millionen schuldloser Menschen - die Zahlen zu nennen oder gar darüber zu feilschen, ist bereits menschenunwürdig“, sagt Theodor W. Adorno in seinem berühmten Vortrag über die „Erziehung nach Auschwitz“.

Richtig begriffen, wirklich verstanden habe ich das Ausmaß des Hasses und der Vernichtung nicht durch eine Zahl im Geschichtsunterricht. Mehr erschüttert, mehr bewegt hat mich unmittelbar das Schicksal eines einzelnen Mädchens. Es war das Persönliche, es waren die Tagebücher der Anne Frank, die den übermächtigen abstrakten Zahlen ein Gesicht gegeben haben. Ein Gesicht, einen Menschen, und damit die Hoffnungen und Enttäuschungen, das Leid und die Vertreibung, Lachen und Weinen, Freude und Angst, all das eben, was einen Menschen ausmacht. Und so wie es mir mit den Tagebüchern der Anne Frank ging, geht es wohl vielen.

Vielleicht haben manche von Ihnen Überlebende wie Max Mannheimer oder Otto Schwerdt in der Schule oder bei Veranstaltungen erlebt. Wir verdanken es den Zeitzeugen, dass wir das gesichtslose Schicksal Hunderttausender in die Lebensgeschichte einzelner Menschen übersetzen können.

Eines ist gewiss: Ohne die aktiven Zeitzeugen, insbesondere hier in Dachau, hätte es die Gedenkarbeit in dieser Form nicht gegeben. Weder die vielen Führungen, noch das Jugendgästehaus, noch eine Veranstaltung wie heute.

Und: So wie die jüdischen Väter seit Generationen ihren Kindern zum Pessachfest von der Leidensgeschichte des jüdischen Volkes erzählen, so stehen viele - vor allem nichtstaatliche - Organisationen und Initiativen dafür, dass das Erinnern und Gedenken seit Jahrzehnten wach gehalten wird: die Evangelische Versöhnungskirche, der Bund der Katholischen Jugend München, die Evangelische Jugend München, die Aktion Sühnezeichen Friedensdienste, der Förderverein für Internationale Jugendbegegnung und Gedenkstättenarbeit in Dachau und die Lagergemeinschaft Dachau.

Es fällt auf, dass es insbesondere auch die Jugendorganisationen, die Jugendverbände sind, die die Geschichte weitertragen. Und das ist gut so. Auch zu dieser Gedenkveranstaltung hat eine Jugendorganisation – die DGB-Jugend eingeladen. Es ist das Selbstverständnis der Jugendverbandsarbeit, dem „Aufleben militaristischer, nationalistischer, rassistischer und totalitärer Tendenzen entgegenzuwirken“ – wie es in der Satzung des Bayerischen Jugendringes heißt. Gerade Jugendarbeit darf nicht im Erinnern verharren, sondern muss den jungen Menschen Zukunft und Perspektive bieten. Jugendarbeit richtet den Blick nach vorne aber hat dabei - ähnlich dem guten Autofahrer - den Rückspiegel fest im Blick.

Die Zeitzeugen werden älter, und sie werden weniger. Deshalb wird es künftig eine neue, eine andere Form des Gedenkens und Erinnerns geben. Es wird darum gehen, die einzelnen Lebensgeschichten zu bewahren und weiterzutragen. Damit sie in ihrer konkreten Eindringlichkeit auch den kommenden Generationen die Vernichtung begreifbar machen.

Damit es auch in Zukunft Gesichter und Menschen gibt. Damit auch in Zukunft alle wissen, worin sich diese Nacht von all den anderen Nächten unterscheidet.

Mögen sich die Formen auch wandeln, mögen die handelnden Personen auch andere sein, den jeweiligen Bezug finden wir im Schrecken der Judenvernichtung. Wer die Lebenserinnerung von Otto Schwerdt liest, dem ehemaligen Vorsitzenden des Landesausschusses der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern, begreift, was geschehen ist.

In seinem Buch „Als Gott und die Welt schliefen“ schreibt er: „Ein SS-Arzt geht musternd an uns vorbei. Dann dreht er sich um und stellt sich vor uns hin. Jetzt müssen wir langsam an ihm vorbeigehen. Bei jedem Einzelnen zeigt er mit dem Finger nach rechts oder nach links. Das ist die erste Selektion. Plötzlich ist mir klar. Links bedeutet Tod, rechts Leben. Rechts Arbeitslager, links Gas. Rechts, links, links, links, rechts, zeigt der SS-Mann. So einfach ist das für die Herrenmenschen.“

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,

Dass es für die selbsternannten Herrenmenschen so einfach werden konnte, Herr über Leben und Tod zu werden, hat eine lange Vorgeschichte.

Willkür und Gewalt gegenüber Juden waren Bestandteil des Alltags und spielten sich nicht im Verborgenen ab. Als das Unrecht wenig später auch noch Gesetzesrang erhielt, waren die jüdischen Bürgerinnen und Bürger endgültig jeder Form von Willkür und Gewalt preisgegeben. Auf Ausgrenzung und Diskriminierung folgte der Massenmord.

Die Nacht der Pogrome war nicht der Auftakt zur Judenverfolgung. Der Terror hatte spätestens mit Hitlers Machtergreifung begonnen. Die Nacht vom 9. auf den 10. November war ein vorläufiger Höhepunkt und gleichzeitig die Vorbereitung und der Ausgangspunkt auf die folgende systematische Judenvernichtung in Deutschland und in ganz Europa.

Mit der Pogromnacht wurde ein Zeichen gesetzt: Es ging den SA-Schergen auch um die öffentliche Verächtlichmachung der Juden, die nackte Herabwürdigung von Menschen, das Zurschaustellen der Macht der SA und damit der Ohnmacht der Diskriminierten.

In Eisenach beispielsweise wurden alte Leute in einen kleinen Fluss getrieben, wo sie zum Gaudium des Mobs stundenlang im kalten Wasser stehen mussten.

Diese Vorführungen waren ein Ritual öffentlicher Demütigung. Dabei stellt sich die Frage: Gab es auch öffentlichen Widerstand gegen diese Diskriminierungen? Den gab es; wenig zwar, aber es gab ihn!

In Berlin verhinderte der Vorsteher des Polizeireviers 16, Wilhelm Krützfeld, durch mutiges Einschreiten, dass die Synagoge an der Oranienburger Straße abbrannte. Er verjagte die SA-Männer und rief die Feuerwehr, um den schon gelegten Brand zu löschen. Geschehen ist ihm danach nichts.

Mit anderen Worten: Zumindest zu diesem Zeitpunkt waren Zivilcourage und Protest noch möglich. Aber es gab beides eben viel zu selten. Viele haben von der Vertreibung der Juden materiell profitiert, noch viele mehr haben einfach zugeschaut.

Vom jüdische Schriftsteller und Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel stammt der eindringliche Satz: „Der Gegensatz von Liebe ist nicht Hass, der Gegensatz von Erinnerung heißt nicht Vergessen, sondern es ist nichts anderes als jedes Mal die Gleichgültigkeit.“

gerade die deutsche Gewerkschaftsbewegung weiß, wovon sie spricht. Die einst machtvolle deutsche Arbeiterbewegung hat dem Aufstieg Hitlers und der Nazis kaum etwas entgegengesetzt. Dabei war die Ideologie der Nationalsozialisten eindeutig. Das Verhältnis der Nazis zu den abhängig Beschäftigten war geprägt von der Vorstellung einer Interessenharmonie von Kapital und Arbeit. Im „Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit“ hieß es, „dass der Unternehmer als Führer des Betriebes, die Angestellten und Arbeiter als Gefolgschaft… zum gemeinsamen Nutzen von Volk und Staat“ zusammenarbeiten sollen.

Für die Nazis waren die Gewerkschaften und die Arbeiterparteien ein Hemmschuh der völkischen Entwicklung. Das Verbot der Gewerkschaften bereits am 2. Mai 1932, die Verfolgung und Ermordung vieler Mitglieder und Funktionäre und die Zerschlagung der Organisationen der Arbeiterbewegung waren die Folgen. Auch davon haben in den letzten Jahrzehnten viele Zeitzeugen berichtet, stellvertretend sei unser Kollege Bertel Lörcher genannt.

Rückblickend muss festgestellt werden: Die deutschen Gewerkschaften haben viel zu spät und viel zu wenig begriffen. Schlimmer noch: Sie haben sich oft bis zur Selbstaufgabe angepasst. Anpassung und Duckmäusertum gegenüber der mörderischen Entschlossenheit der Nazis führten zum eigenen Untergang.

Diese Politik der Gewerkschaften hat eine Vorgeschichte. Die enorme Massenarbeitslosigkeit bei geringer sozialer Absicherung führte zur Verarmung breiter Schichten. So wurde der Boden bereitet für radikale politische Gruppen.

Vor- und antidemokratische Strömungen reichten bis weit in die Eliten hinein, Demokratie galt wenig. Die Spaltung zwischen Arm und Reich wurde immer schlimmer. Ein großer Teil der Bevölkerung verlor das Vertrauen in die Demokratie, in die Handlungsfähigkeit und die Lösungskompetenz der Politik.

Aus der Geschichte haben die Gewerkschaften viele Lehren gezogen. Die Einheitsgewerkschaft ist eine wesentliche. Wir sind als politische Organisation, die die Interessen der abhängig Beschäftigten vertritt, auf die politischen Rahmenbedingungen angewiesen. Dazu gehören Demokratie, Freiheit und Solidarität.

Uns geht es beim Gedenken genauso wie bei der aktuellen Auseinandersetzung mit Rechts um:
  • Demokratie in Staat und Gesellschaft – gegen autoritäre Lösungen und Führerprinzip
  • Bekämpfung sozialer Ungleichheit – gegen weitere Spaltungen der Gesellschaft und Ausgrenzungen
  • Internationale Solidarität – gegen Nationalismus
  • Solidarität und Schutz von Minderheiten – gegen Egoismus und das „Recht des Stärkeren“
  • Offenheit gegenüber anderen Völkern, Denkweisen und Kulturen – gegen Rassismus und Ausländerfeindlichkeit
Gewiss, vieles hat sich in der Gedenkarbeit verändert – zum Positiven. Auch hier ist Dachau ein Lehrstück. Es gibt einen breiten demokratischen Konsens gegen Rechts. Die demokratisch verfasste Gesellschaft ist wachsam.

Allerdings heißt diese Wachsamkeit noch nicht, dass alles in Ordnung ist. Im Gegenteil, es existieren noch immer Rechtsradikalismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus. Seit 1998 gab es 141 Todesopfer rechter Gewalt in Deutschland. Es sitzen nach wie vor rechtsradikale Parteien in Länderparlamenten und rechtsextreme Politiker in den Räten der Städte und Gemeinden. Und schon nächsten Samstag marschiert in München wieder der braune Mob.

Und auch wir selbst, die Gewerkschaften haben noch viel zu tun: Befragungen zeigen, dass unter Gewerkschaftsmitgliedern eine rechtsextreme Einstellung etwa im gleichen Maße vorzufinden ist wie in der Gesamtgesellschaft.

Für uns wird wesentlich sein, den Zusammenhang zwischen Demokratie und Sozialstaat deutlich zu machen. Dieser Zusammenhang wird immer mehr verschüttet, der Sozialstaat als Relikt vergangener Jahrzehnte geradezu diskriminiert. Immer mehr Menschen fühlen sich von den gesellschaftlichen Entwicklungen abgehängt. Angst vor sozialem Abstieg greift um sich. Die geringe Wahlbeteiligung bei der letzten Bundestagswahl ist auch Ausdruck dieses Ohnmachtgefühls und dieser Angst.

Fast 7 Millionen Menschen leben in Armut und haben resigniert. In dieser Gruppe ist der Männeranteil hoch, Ausländer gelten nicht selten als Feinde.

Heiner Geißler hat dazu treffend gesagt: „Nur Dummköpfe und Besserwisser können den Menschen weismachen, man könne auf Dauer Solidarität und Partnerschaft in einer Gesellschaft aufs Spiel setzen, ohne dafür irgendwann einen politischen Preis zahlen zu müssen.“ Demokratie und Sozialstaat gehören für uns zwingend zusammen. Eine demokratische Weiterentwicklung ist ohne den Sozialstaat nicht zu haben.

Wer sich und die Politik als ohnmächtig erlebt, der resigniert oder radikalisiert sich, das ist eine wesentliche Erfahrung seit Jahrzehnten.

Arbeiten wir daran, dass es zu keiner Resignation oder Radikalisierung kommt. Wir wollen eine freie und solidarische Gesellschaft, in der die Menschen aufrecht gehen, von ihrer Arbeit ein menschenwürdiges Leben führen können und Schwächere in der Gesellschaft schützen.

Deshalb ist für uns Gedenken immer zweierlei: Ursachen und Wirkungen zu begreifen und aktuelle Entwicklungen in den Blick zu nehmen und deshalb Vergangenes und Gegenwärtiges in Verbindung zu bringen. Der Blick nach vorne und der in den Rückspiegel.

Alle, die wir hier stehen, dachten wohl wie ich, dass man sich um die Frage, ob es ein „Juden-Gen“ oder „Türken-Gen“ gibt, nicht mehr zu kümmern braucht. Jeder seriöse Wissenschaftler weiß doch, dass Menschen nicht auf ihre Gene reduzierbar sind. Das soll’s dann auch zu diesem Unsinn gewesen sein.

Viel entscheidender ist eine andere Diskussion. Da werden wieder Thesen vom wertvollen und weniger wertvollen Leben verbreitet. Unter dem Banner der Meinungsfreiheit werden ethnische Ressentiments wieder gesellschaftsfähig macht. Ein Buch, in dem gefordert wird, dass der Staat zwischen gewünschter und ungewünschter Fortpflanzung unterscheidet, beherrscht wochenlang die Bestsellerlisten. Ein Hobby-Eugeniker und seine medialen Helfershelfer sind dabei, Theorien der staatlichen Genomauswahl wieder salonfähig zu machen. Andere und Schlimmere werden sich darauf berufen.

Im Zuge dieser These entscheidet der Autor über Nützlichkeit oder eben Nicht-Nützlichkeit von Arbeitskräften und ganzen Bevölkerungsgruppen. Manches, was derzeit unter dem Deckmantel einer Integrationsdebatte daherkommt, ist in Wirklichkeit eine Selektionsdebatte.

Und damit liegt der Autor auf einer Linie mit denjenigen, die in der augenblicklichen Zuwanderungsdebatte ausschließlich unter dem Aspekt der wirtschaftlichen Verwertbarkeit argumentieren. Nutzen die Ausländer der deutschen Wirtschaft, dann sollen sie kommen, nützen sie ihr nicht, dann sollen sie draußen bleiben.

Auch angesichts dieses Ortes hier, stellen sich da einige Fragen: Was ist denn mit den Menschen, die aus religiösen, politischen und wirtschaftlichen Gründen ein Land verlassen müssen und woanders zuwandern? Wie verkommen muss eigentlich eine Diskussion sein, die Menschen vorrangig nach ihrer wirtschaftlichen Verwertbarkeit klassifiziert?

Wenn wir also nicht nur gedenken wollen, wenn wir die Erinnerung wach halten und Bezüge zur Gegenwart herstellen wollen, bleibt eine Forderung zentral: Wer Menschen sortiert, aus welchem Grund auch immer, soll sich nicht humanistisch geben. Er ist es nämlich nicht. Und er hat aus der Geschichte auch nichts gelernt.

Das Gedenken an die Pogromnacht vom 9. November bleibt deshalb wichtig, weil sich in ihm das Erinnern und die aktuellen Bezüge bündeln. Eine Nacht, die ihre symbolische Kraft für ein kollektives wie individuelles Bewusstsein entfalten kann. Wir werden nie vergessen, worin sich diese Nacht von all den anderen Nächten unterscheidet.