Köln, 27.1.2010 - "Erinnern - Eine Brücke in die Zukunft" - Gedenkveranstaltung anläßlich der Befreiung des KZ Auschwitz am 27.1.1945Bilder

Kinder als Opfer des Nationalsozialismus

Text aus dem Flugblatt zum Aufruf zur Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus "Erinnern - Eine Brücke in die Zukunft"

Am 27. Januar, dem Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, gedenken wir aller Verfolgten und Ermordeten der Nazi-Diktatur, ihrer Leiden, Qualen und Erniedrigungen.

Am 27. Januar 2010 stellen wir die schwächsten und hilflosesten der Opfer, die Kinder, in den Mittelpunkt unseres Gedenkens, indem wir Schicksale Kölner Kinder vorstellen.

Hitler wollte für seine Kriegsziele eine Jugend „flink wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl". Kinder, die diesem Bild nicht entsprachen oder nicht zum „deutschen Volk" gehören sollten, wurden ausgegrenzt, von den Schulen verwiesen, aus ihren Familien gerissen, in Heime gesteckt, sterilisiert, in Konzentrationslager verschleppt und umgebracht.

Sofort nach der Machtübernahme der Nazis erlebten die Kinder der aus politischen, weltanschaulichen oder religiösen Gründen Verfolgten ohnmächtig die Verhaftungen und Misshandlungen ihrer Väter und Mütter und landeten oft in Heimerziehung. Viele Kinder mussten die Hinrichtung von Vater oder Mutter und die damit für sie selbst verbundene Stigmatisierung verkraften.

Nach der Herrenmenschenideologie des Nationalsozialismus sollten alle, die dem Bild von der „deutschen Volksgemeinschaft" nicht entsprachen, gar nicht erst geboren werden. Dafür wurde schon 1933 das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" erlassen, das Grundlage für Zwangssterilisierungen war. Behinderte, „Asoziale" und „Kriminelle" sollten gehindert werden, Kinder zu bekommen. Sogar Kinder wurden sterilisiert, auch in Köln. Kamen behinderte Kinder zur Welt, wurden sie ab 1939 direkt nach der Geburt „erfasst". Viele wurden in extra dafür eingerichteten „Kinderfachabteilungen" im Rahmen der „Euthanasie" umgebracht. Etwa hundert Kölner Kinder wurden nach Hadamar in Hessen, nach Waldniel bei Mönchengladbach oder bis nach Wien transportiert und dort ermordet. Auf dem Gräberfeld der Kölner Euthanasie-Opfer auf dem Westfriedhof ist lediglich ein Kind beigesetzt, die übrigen sind irgendwo verscharrt.

Von Anfang an waren in Köln tausende jüdische Kinder durch die Rassenpolitik der Nazis betroffen: Schon 1933 wurden sie nicht mehr in öffentliche Schulen aufgenommen, sondern konnten nur noch auf jüdische Schulen gehen. Ihre Eltern verloren ihre Existenz durch Diskriminierung, Berufsverbote, Boykott und Enteignung. Einigen Kindern konnten die Eltern das Leben retten, indem sie diese allein ins Ausland schickten, während sie selbst in Deutschland bleiben mussten und später in der Regel deportiert wurden. Die Kinder sahen ihre Eltern meist nie wieder. 1100 Kinder, die namentlich bekannt sind, wurden von Köln-Deutz aus in Ghettos und Vernichtungslager deportiert und dort ermordet.

Auch die Kinder der Sinti und Roma wurden seit Beginn der NS-Herrschaft verfolgt. Ab 1935 mussten in Köln alle nicht sesshaften Roma und Sinti in einem Lager in Bickendorf leben. Viele von ihnen, auch Kinder, wurden sterilisiert. Ab 1939 durften sie keine öffentlichen Schulen mehr besuchen. Im Mai 1940 wurden 1000 Sinti und Roma mit ihren Kindern in das besetzte Polen deportiert. Die meisten überlebten die Deportation nicht. 1942 wurden die letzten in Köln verbliebenen Familien in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau transportiert und dort ermordet.

Zehntausende Kinder von Zwangsarbeitern, vor allem aus Polen und der ehemaligen Sowjetunion, wurden mit ihrer Familie nach Deutschland verschleppt, zahlreiche auch nach Köln. Viele Kinder starben schon auf den langen Transporten in Viehwaggons. Während die Eltern Zwangsarbeit leisten mussten, waren ihre Kinder sich selbst überlassen, durften nicht zur Schule, litten Hunger und wurden schnell krank. Viele starben an Infektionen und bei Bombenangriffen. Denen, die Deportation und Krieg überlebten, waren Kindheit und Jugend, oft auch die Gesundheit für ihr weiteres Leben zerstört.

Entsprechend dem Schwur von Buchenwald - „Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung, der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel!"- sind wir alle aufgefordert, einen persönlichen Beitrag zu leisten, dass die UN-Kinderrechtskonvention weltweit durchgesetzt und eingehalten wird, damit Kindern in Zukunft solche Schicksale erspart bleiben.


"Kinder als Opfer von Gewalt, Krieg und Hunger"

Text der Text-Bild-Collage 'Kinder als Opfer des Nationalsozialismus'

(Einleitung)

[Erwachs.:] Als die Nazis 1933 an die Macht gekommen waren, rief Hitler der deutschen Jugend zu: "Ihr seid die Zukunft der Nation, die Zukunft des Deutschen Reiches." Welche Zukunft er ihnen zugedacht hatte, sagte er allerdings nicht. Stattdessen ließ er sich in der Öffentlichkeit gerne und häufig als großer Kinderfreund sehen und fotografieren.

(Kinder von politisch Verfolgten)

[Erwachs.:] Doch sofort nach der Machtübernahme machten die Kinder der Nazigegner ganz andere Erfahrungen. Ohnmächtig mussten sie zusehen, wie ihre Väter und Mütter verhaftet und misshandelt werden. Sie selbst landeten oft in Heimerziehung. Viele Kinder mussten die Hinrichtungen von Vater oder Mutter und neben dem Verlust die damit für sie selbst verbundene Stigmatisierung verkraften.

Bei der Darstellung des Widerstands wurde weitgehend außer Acht gelassen, welche Konsequenzen die Widerstandstätigkeit der Eltern für die Kinder hatte. Oft wurde der Lebensweg der Töchter und Söhne davon maßgeblich geprägt.

Grete von Lösch wurde 1926 geboren. Sie ist die Tochter von Margaretha und Hein Hamacher. Hein Hamacher gehörte dem sozialdemokratischen Widerstand an. Im Ersten Weltkrieg meldete er sich als 18-Jähriger freiwillig. Nach seiner Rückkehr schloss er sich der kommunistischen Partei an, wechselte aber nach wenigen Jahren zur SPD, ohne von seinen prinzipiell linken Positionen abzurücken.

[Mädchen:] Ich bewunderte meinen Vater. Er war um so viel klüger als alle erwachsenen Männer, die ich kannte. „Wissen ist Macht!“ hieß es in unserer Familie immer, deshalb sollte ich später auch aufs Gymnasium gehen. Mein Vater hatte sich auch ausdrücklich eine Tochter gewünscht. „Eine Tochter muss nicht Soldat werden!“sagte er.

Zum Gymnasium wurde ich aus politischen Gründen dann allerdings nicht zugelassen.

Ich war sechseinhalb Jahre alt, als mein Vater kurz nach dem SPD-Verbot im Juni 1933 erstmals verhaftet wurde. An die Festnahme habe ich kaum Erinnerungen, umso deutlichere an die Rückkehr des Vaters. Ich durfte nicht mitgehen, um ihn abzuholen. Fünf Monate war er fort gewesen und längst hatte ich mir ganz eigene Gedanken über die geheimnisvolle Reise des Vaters gemacht, von der gelegentlich beschwichtigend gesprochen worden war. Nun sollte er also endlich wiederkommen. Meine Mutter sah wunderschön aus, und auch ich war zum Empfang herausstaffiert worden. „Wenn du möchtest“, sagte meine Mutter im Weggehen, „dann warte an der Straßenbahnhaltestelle auf uns.“

Viel zu früh ging ich zur nahegelegenen Haltestelle. Endlich kam die Tram. Die Mutter stieg aus, danach noch ein Mann. Er sah ungepflegt aus, sehr dünn, ärmlich gekleidet. Aber niemand stieg sonst aus. Wo war der Vater? War er mit dem angekündigten Zug nicht gekommen?

Da nahm der Mann mich in die Arme und drückte mich ganz fest an sich. „Gretelein, mein kleiner Spatz!“rief er. Und in diesem Augenblick erkannte ich die Stimme meines Vaters.

Für die Festnahme meines Vaters hatte es gereicht, dass er Mitarbeiter der SPD gewesen war. Niemand erfuhr damals, dass er rechtzeitig Mitgliederlisten und Parteiprotokolle verbrannt hatte. Mir gegenüber wurden die politischen Aktivitäten nicht einmal angedeutet. Manchmal wunderte ich mich allerdings über die zornige Ungeduld meines Vaters. Erst viel später erfuhr ich, dass er zutiefst enttäuscht war über die Tatenlosigkeit der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften.

Nach der Verhaftung schaffte man meinen Vater ins KZ Esterwegen, dort musste er Torf stechen. Später kam er ins Zuchthaus Brandenburg. Das Ganze galt als Schutzhaft. Es gab keine Anklage und keinen Prozess. Nach der Haftentlassung galt mein Vater als „politisch unzuverlässig“ und durfte nicht beschäftigt werden. Zu meiner Freude war er also öfter zu Hause als sonst. Er war aber immer noch häufiger unterwegs als andere arbeitslose Väter.

Um den Lebensunterhalt der Familie zu sichern, nähte, servierte und putzte meine Mutter jetzt noch mehr und auf mich kleines Mädchen kamen eine Menge Hilfsleistungen im Haushalt zu. Aus dem Briefwechsel meiner Eltern geht hervor, dass ich ein braves, fleißiges, hilfsbereites, also angepasstes Kind war. Mein Vater lobte mich dafür.

[Erwachs.:] Hein Hamacher gehörte damals zu einer Widerstandsgruppe um Hermann Runge. Ihre Mitglieder wirkten im mittel-und niederrheinischen Raum. Die Gruppe flog auf. Eineinhalb Jahre saßen 18 Männer in Untersuchungshaft, ehe ihnen wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ der Prozess gemacht wurde.

[Mädchen:] Ich war kaum neun Jahre alt, als ich beim Besuch meines Vaters zum ersten Mal ein Gefängnis betrat.

Da war ein großer Saal mit einem riesigen Tisch in der Mitte. Mutter und ich waren von der einen Seite rein geführt worden der Vater von der anderen. Wir setzten uns an den riesigen Tisch, konnten uns nur sehen, nicht berühren und mussten sehr laut reden. Hinter unserem Rücken, an der Tür, stand ein Mann. Der sagte nach zehn Minuten, dass wir gehen müssten.

Auf Wunsch meines Vaters nahm meine Mutter mich nicht mehr zu weiteren Besuchen mit.

Er meinte, dass diese Besuche meine Kinderseele unnötigerweise beschweren würden.

Vielleicht aber sollte ich nicht die Folgen der Verhörmethoden wahrnehmen, eingeschlagene Zähne, ein beschädigtes Ohr, teilweise Gehörlosigkeit.

Wir schrieben uns oft Briefe. Ich seh mich noch auf dem Sofa in der Wohnküche sitzen und Vati einen Brief schreiben darüber, dass ich Mutter im Garten helfe, dass die Katze Junge gekriegt hat, dass unsere Hühner frech sind und wie viele Eier sie gelegt haben. Jeder Brief wurde beantwortet.

[Erwachs.:] im April 1936 wird auch noch Margarethe Hamacher verhaftet.

[Mädchen:] Ich weiß noch genau, wie das war. Ich kam aus der Schule und da standen oben in unserer Mansardenwohnung zwei Männer, Polizei oder Gestapo. Sie trugen schwarze Ledermäntel, und Hüte hatten sie auf. Sie sahen so aus wie die Leute, die schon oft bei uns gewesen waren und bei vielen Hausdurchsuchungen das Unterste zuoberst gekehrt hatten. Da standen sie also mit meiner Mutter. Die wehrte sich: „ Ich kann doch das Kind nicht alleine lassen!“ Das beeindruckte aber nicht. In unserem Haus befand sich eine Gastwirtschaft. Ich wurde runtergebracht zum Gastwirt und meine Mutter verschwand.

Ich weiß nicht mehr, welche Gefühle ich damals hatte. Aber eines weiß ich noch: Beim Gastwirt wurde mir erst mal ein Teller dicker Bohnen vorgesetzt. Ich sehe mich noch heute mit der Gabel in den dicken Bohnen stochern. Diese Bohnen habe ich überhaupt nicht runtergebracht. Ich konnte, bis ich erwachsen war, keine dicken Bohnen mehr sehen. Mir wurde dann sofort schlecht.

Ich hatte Angst. Der Vater war schon so lange weg und jetzt auch noch die Mutter. Aber allein und verlassen war ich nicht. Ich kam zur Großmutter.

Nach vier Tagen war meine Mutter wieder da. Sie wurde sehr krank. Sie lag im Bett und konnte nicht mehr aufstehen. Dann verlor sie ihre Zähne. Es gab keinen organischen Grund. Sie war damals 31 oder 32 Jahre alt und verlor einfach die Zähne. Der Zahnarzt sagte, es sei eine Nervensache.

Ich fehlte in jenem Jahr an 18 Tagen in der Schule und bekam das schlechteste Zeugnis meiner Schulzeit.

[Erwachs.:] Im Prozess gegen die rheinische Widerstandsgruppe wurde Hein Hamacher freigesprochen. Nach 18 Monaten, kurz bevor seine Tochter 10 Jahre alt wurde, war er wieder zu Hause. Er versuchte als Hausierer zum Lebensunterhalt beizutragen. Im Zuge der Kriegsvorbereitungen erhielt er schließlich Arbeit in den Kölner Ford–Werken.

Nach dem 20. Juli 1944 wurde er wie Tausende andere sogenannte „politisch Unzuverlässige“ erneut festgenommen. Grete war jetzt 17 Jahre alt und arbeitete ebenfalls bei Ford.

[Mädchen:] Damals waren in aller Herrgottsfrühe zwei Männer gekommen und fragten nach meinem Vater. Aber der war schon auf der Arbeit. Ich hab mich angezogen und bin, so schnell ich konnte, mit dem Fahrrad in den Betrieb gefahren. Ich lief sofort in die Maschinenhalle. Aber als ich kam, wurde er gerade rausgebracht. Er drückte mir einen Schlüssel in die Hand und sein Notizbuch.

[Erwachs.:] Hein Hamacher wurde in ein Lager auf dem Messegelände gebracht.

[Mädchen:] Stacheldraht drum herum und ein Posten davor. Als ich da mit dem Rad ankam, drehte sich der Posten auf dem Absatz um und guckte weg. Einer der Internierten kam von innen an den Zaun und fragte, ob ich jemanden suchte. Als ich den Namen sagte, ging der Mann weg und es dauerte gar nicht lange. Da kam der Vater an den Zaun. Nun wussten wir also, wo er war. Der Anblick des Lagers ängstigte mich nicht, nur die Vorstellung, dass Vater nicht wiederkommt.

[Erwachs.:] Aber er kam wieder. Das Personalbüro bei Ford hatte sich für ihn eingesetzt. Viele andere kamen nicht nach Hause. Sie wurden ins KZ verbracht.

Nach dem Krieg zählte Gretes Vater zu den „Männern der ersten Stunde“ in Köln. Er gehörte für die SPD 1945 der von den Besatzungsbehörden berufenen Stadtvertretung an, anschließend über viele Jahre dem Kölner Stadtrat, später dem Bundestag. 1974 starb er.

Grete Hamacher trat in die Fußstapfen ihres Vaters. Sie ging 1945, 18 jährig, in die SPD, fand Arbeit bei der Spitze der wiedererstehenden Gewerkschaften. Später studierte sie Nationalökonomie, wirkte als Stadtverordnete, und als Mitglied zahlreicher Kommissionen und Stiftungen. Heute lebt die 83- Jährige inFrankfurt.

Zuweilen wundert sie sich:

[Mädchen:] Warum habe ich das damals alles so bruchlos erlebt?

Weil ich trotz allem alle Zuwendung hatte, die ein Kind braucht.

(Zwangssterilisation, Euthanasie)

[Erwachs.:] "Schlank und rank, flink wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl." So Hitler über sein Idealbild der deutschen Jugend. Wer diesem Bild der Herrenmenschenideologie des Nationalsozialismus nicht entsprach, sollte am besten gar nicht erst geboren werden. Behinderte, „Asoziale“ und „Kriminelle“ sollten gehindert werden, Kinder zu bekommen. Sie galten als unnötige finanzielle Belastung der "Volksgemeinschaft", als "unnütze Esser". Dafür wurde schon 1933 das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ erlassen, das Grundlage für Zwangssterilisierungen war. Bis1945 wurden ca 2000 Kölner sterilisiert, vor allem an der Universitätsklinik und im Evangelischen Krankenhaus Weyertal. Darunter waren auch viele Kinder, alleine 14 Mädchen an der Universitätsfrauenklinik. Kamen behinderte Kinder dennoch zur Welt, wurden sie ab 1939 direkt nach der Geburt „erfasst“. Viele wurden in extra dafür eingerichteten „Kinderfachabteilungen“ im Rahmen der „Euthanasie“ umgebracht.

Nikolaus aus Köln, sechs Jahre. Er wurde von der Kölner Universitätsklinik an die Jugendpsychiatrie Bonn überwiesen. In seiner Akte steht: "Nikolaus wurde von einer Pflegeschwester zur Aufnahme gebracht. Beim Abschied weinte er viel und wollte nicht zur Station, sondern musste mit Gewalt hinaufgeführt werden."

Auf dem Deckblatt heißt es: "Sippe asozial, Geschwister schwererziehbar oder sonst abartig." Das machte ihn in der Nazizeit von Anfang an verdächtig und bedrohte ihn mit Verfolgung. Weiter heißt es: "Familie ohne festen Wohnsitz. Nach dem Tod der Mutter 1937 wurde Untersuchter mit seinen 4 Geschwistern in Waisenpflege gegeben. Kindsvater soll sich mit einer 30 Jahre jüngeren Dirne herumtreiben." Weil er in den Heimen angeblich "störte und zankte", wurde er von einem zum nächsten geschickt, zwischendrin auch in psychiatrische Anstalten, zuletzt nach Bonn.

Frage im Intelligenztest:

[Mann:] "Wieviel Finger hast du an der Hand?"

[Junge:] Zählt bis 9.

[Mann:] "Mit was schießen die Soldaten?"

[Junge:] "Mit einem Schießgewehr. Die tun die Kinder totschießen. Ich bin auch schon mal totgeschossen worden von Soldaten."

[Mann:] "Wo sind deine Brüder?"

[Junge:] "Zu Hause bei meinem Vater, die Mutter ist tot, die ist jetzt im Himmel, die muss da gesund sein. Die Soldaten haben die Mutter totgeschossen."

[Mann:] Diagnose: "Schwachsinn mittleren Grades".

Empfehlung: "Untersuchter bedarf vor allem auf Grund seiner Schwererziehbarkeit der Unterbringung in Anstaltspflege, wo ein Förderungsversuch gemacht werden kann. Die Erfolgsaussichten sind gering… Er wurde dem Amtsarzt als erbkrankverdächtig gemeldet."

Nikolaus wird in die sogenannte "Kinderfachabteilung" der Heilerziehungsanstalt Kalmenhof in Hessen verlegt, wo die Kinder, wie in allen anderen rund 30 "Kinderfachabteilungen" im "Deutschen Reich", durch Unterernährung und mit Giftspritzen umgebracht werden. Eine Woche nach seiner Ankunft ist er schon tot: eines von 14 Kölner Kindern, die von der Jugendpsychiatrie Bonn hierhin in den Tod geschickt wurden. Acht Kölner Kinder starben schon in Bonn.

Hans aus Köln, 13 Jahre, am 7.7.1941 ebenfalls von der Kölner Universitätsklinik in die Jugendpsychiatrie Bonn überwiesen. Diagnose: "cerebales Krampfleiden… nach Schädeltrauma": Er war mit acht Jahren gestolpert, dabei auf den Kopf gefallen, hatte seitdem epileptische Anfälle und einen angeblichen "Intelligenzschaden".

Doch als er im Intelligenztest gefragt wird:

"Wer regiert in Deutschland?"

Antwortet er:

[Junge:] "Der Führer, Göring, Goebbels."

[Mann:] "Gegen wen führt Deutschland Krieg?"

[Junge:] "Momentan mit Russland und England."

[Mann:] "Woher kommt die Milch?"

[Junge:] "Nur von der Kuh."

[Mann:] "Woraus wird Papier gemacht?"

[Junge:] "Aus Holz."

[Mann:] "Was ist Sparsamkeit?"

[Junge:] "Wenn man einen Kuchen hat und die eine Hälfte vor dem Mittag und die andere Hälfte nach den Mittag isst."

[Erwachs.:] Der untersuchende Arzt stellt auch fest: "Er … kann auch in den drei Grundrechenarten operieren… In der allgemeinen Unterhaltung gewinnt man den Eindruck, als ob es sich wohl um einen Minderbegabten, aber keineswegs um einen Schwachsinnigen handele."

Er empfiehlt trotzdem:

"Unterbringung in einer Schwachsinnigenanstalt, wo er zu leichteren praktischen Arbeiten herangezogen werden kann."

Er kommt in das evangelische Heim für Behinderte "Hephata" in Mönchengladbach, wo er zusammen mit 800 Behinderten versorgt wird. Doch als immer mehr Krankenbetten für verwundete Soldaten und Bombenopfer gebraucht werden, sollen alle "unheilbar Kranken" im Reich ihre Betten "frei machen" und in Vernichtunganstalten gebracht werden. Das trifft auch "Hephata" und Hans. Ab 1943 bringen die Nazibehörden gegen den Widerstand der Heimleitung von 800 Bewohnern 180 in die Mordanstalt Hadamar. Hans wird dort am 6. Januar 1944 umgebracht, eines von 12 namentlich bekannten Kölner Kindern, die hier getötet wurden, wahrscheinlich waren es aber doppelt so viele. Schon bis August 1941 hatten die Ärzte und Krankenpfleger dort 10.000 Menschen ermordet und das im Keller des Krematoriums mit Bier gefeiert, wie ein Zeuge später vor Gericht aussagte:

[Mann:] "Dort war auf einer Bahre ein nackter männlicher Toter mit einem großen Wasserkopf aufgebahrt. Der Tote wurde … in den Verbrennungsofen geschoben. Hierzu hielt [der Verwaltungsangestellte] Märkle, der sich nach Art eines Geistlichen zurechtgemacht hatte, eine Leichenpredigt … Es wurde auch Musik gemacht … es war eine Mordssauferei … diese Trinkerei artete dahin aus, dass ein Umzug durch das ganze Gebäude gemacht wurde.“

[Erwachs.:] Im Mai 1943 wurde auch das katholische St. Josefshaus in Hardt bei Mönchengladbach für Kriegszwecke "geräumt". 259 geistig behinderte Jungen und Männer wurden über fast 1000 Kilometer in verschiedene Mordanstalten in Österreich transportiert, darunter 47 Kölner Kinder, u.a. in die Kinderfachabteilung "Spiegelgrund" in Wien, wo insgesamt mehr als 700 Kinder umgebracht wurden. In einem Nachbarhaus für "schwererziehbare" Jungen war der damals 12-jährige Wiener Johann Gross untergebracht. Eines Tages, zusammen mit den anderen auf dem Weg zur Schule, sah er einen Hausarbeiter einen Karren vorbeiziehen:

[Junge:] "Und im dem Wagerl – lauter kleine tote Kinder! Wie weggeworfene Puppen lagen sie kreuz und quer, die Glieder oft ganz unnatürlich verrenkt. Die kleinen Körper hatten meist eine ganz eigenartige Farbe. Es war eine Art Rotgünblau… Die Schwester am Ende unserer Kolonne sagte nur:

[Frau:] "Ruhe da vorne! Oder will vielleicht jemand von euch mitfahren?" Ich glaube, alle von uns gingen damals mit sehr weichen Knien den restlichen Weg zur Schule."

[Mann:] Die Eltern des 4-jährigen Günther aus Köln hatten in Briefen die Klinikleitung gebeten, ihren Jungen zurückkommen zu lassen. Die einzige Antwort war eine Mitteilung an die Großmutter: "Ihr Enkelkind Günther L. ist am 20.6. sanft entschlummert. Das schwächliche Kind hatte schon lange einen Bronchialkatarrh und ist der Lungenentzündung erlegen. Wir sagen Ihnen und der Mutter des Kindes unser Beileid."

[Mann:] Auch die Wiener Krankenschwester Anni Wödl kämpft um ihren 6-jährigen Alfred, als der in eine Kinderfachabteilung verlegt werden soll. Im Prozess gegen die verantwortlichen Ärzte 1946 berichtete sie:

[Frau:] "Als ich hörte, dass mein Kind verschickt werden sollte, fuhr ich sofort nach Berlin, um in der Reichskanzlei das Schlimmste abzuwenden. Ich wurde dort von einem gewissen Dr. Linden empfangen. 'Ihr Kind muss sterben', sagte er zu mir – was wollen Sie noch?'"

[Mann:] Dr. Linden, einer der Hauptverantwortlichen für die Organisation der Euthanasie, schlug Anni Wödl noch vor: "Wenn Sie schon so "kinderliebend" sind, trachten sie gesunde Kinder in die Welt zu setzen. Einen entsprechenden Mann würde Ihnen die SS ohne weiteres zur Verfügung stellen..."

[Erwachs.:] 14 Tage später wurde Alfred in die Wiener Kinderklinik verlegt, zwei Wochen später war er tot. Aber damit endete die Grausamkeit der Nazi-Ärzte nicht. Sie entnahmen Alfreds Leiche, wie den meisten der Kinder vom "Spiegelgrund", noch das Gehirn, um es für ihre "wissenschaftlichen" Zwecke missbrauchen zu können. Dafür wurden hunderte Präparate auch noch Jahrzehnte nach 1945 aufbewahrt. Der leitende Arzt des "Spiegelgrund", Dr. Heinrich Gross, wurde nach 1945 von den zuständigen Gerichten nicht nur freigesprochen, er führte seine Untersuchungen an den Gehirnen der Ermordeten an derselben Stelle weiter, veröffentlichte darüber über 30 wissenschaftliche Arbeiten, erhielt dafür das "Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I. Klasse" der Republik Österreich und erstattete als angesehener Psychiater tausende medizinische Gutachten für österreichische Gerichte. Nach einem langen, geruhsamen Lebensabend starb er 2005 im fast biblischen Alter von neunzig Jahren.

Mit den Gehirnen der ermordeten, auch Kölner, Kinder, wurde weiter Schindluder getrieben, bis endlich im Jahr 2002 600 Urnen mit ihren sterblichen Überresten am Wiener Zentralfriedhof beigesetzt wurden.

(Jüdische Kinder)

[Erwachs.:] Auch jüdische Kinder waren von Anfang an durch die menschenverachtende Politik der Nationalsozialisten bedroht. Schon Kinderbücher hetzten gegen die Juden ("Trau keinem Fuchs auf grüner Heid und keinem Jud bei seinem Eid").

Bereits seit 1933 waren die jüdischen Kinder, die öffentliche Schulen besuchten – und das war die Mehrzahl von ihnen –, Ausgrenzung und Diskriminierung ausgesetzt. Dort wurde oft offene Judenhetze betrieben. Der Rektor der Volksschule in der Kölner Overbeckstraße verkündete 1935 im Unterricht zu Fotos von einst bedeutenden deutschen Juden auf der Klassentafel: "Wer den Juden kennt, kennt den Teufel . Ohne Lösung der Judenfrage ist eine Erlösung unmöglich." Stolz berichtete er dem Nazi-Hetzblatt "Stürmer": "Mit dieser Anschauungstafel versehen halte ich in allen oberen Klassen meiner Schule Vorträge über die Judenfrage."

Ende 1938 wurde offiziell verboten, jüdische Schüler an sog. „deutschen“ Schulen zu unterrichten. Und in einem Kinderbuch freut man sich: "Nun wird es in den Schulen schön, denn alle Juden müssen gehn."

Manchen Kindern retteten die Eltern das Leben, indem sie sie ins Ausland schickten. So konnte z. B. der letzte Direktor des jüdischen Gymnasiums „Jawne“, Erich Klibansky, rund 130 seiner Schülerinnen und Schüler nach England in Sicherheit bringen, bevor er selbst, wie die meisten der zurückgebliebenen Eltern, mit seiner Familie deportiert und ermordet wurde. Die geretteten Kinder sahen ihre Eltern und Angehörigen in der Regel nicht wieder.

Eintausendeinhundert Kinder, die namentlich bekannt sind, wurden von Köln-Deutz aus zwischen Oktober 1941 und 44 in Ghettos und Vernichtungslager deportiert und dort ermordet. Ihre Namen finden sich jetzt am „Löwenbrunnen“, der Kindergedenkstätte auf dem Gelände des ehemaligen jüdischen Schul- und Gemeindezentrums an der St. Apern-Straße.

Im Folgenden verlesen wir die Erinnerungen einer ehemaligen Schülerin der „Jawne“, Hannelore Göttling-Jakoby.

[Frau:] Seit 1725 ist meine Familie im Rheinland nachgewiesen.

Meine Erinnerungen beginnen im Alter von drei Jahren, etwa 1936.

[Mädchen:] „Du darfst niemandem erzählen, worüber zuhause gesprochen wird!“ Ein Satz, der von der Mutter wiederholt geäußert wurde. Aber wem hätte ich erzählen können, was ich zuhause gehört habe? Im Ort pflegte die Familie nur den Umgang mit der jüdischen Verwandtschaft.

[Frau:] Mir war bewusst, dass es etwas Besonderes im negativen Sinne war:

[Mädchen:] Die Kinder in der Bismarckstraße in Hennef spielten nicht mit mir. Sie vertrieben mich von der Straße, wo Kinder 1936 vom Verkehr ungestört spielen konnten, liefen hinter mir her und riefen: „Jüd Jüd Jüd hepp hepp hepp...“ Die Nachbarin, Frau Nikolai, vertrieb diese Kinder und tröstete mich.

[Frau:] Wer hatte diesen Kindern erzählt, dass ich jüdisch war, und wer hatte ihnen den Spruch beigebracht?

[Mädchen:] Wenn keine Kinder zu sehen waren, spielte ich allein auf dem Sportplatz gegenüber der elterlichen Wohnung. Ich war, ohne Geschwister, seit früher Kindheit auf meine eigene Gesellschaft angewiesen.

Im November 1938 wurde mein Vater verhaftet und verbrachte eine Nacht im Gefängnis von Hennef, bevor er über Brauweiler nach Dachau gebracht wurde. Am Abend der Verhaftung nahm die Mutter mich mit zum Gefängnis, um für den Vater warme Unterwäsche abzugeben. Ich war sehr traurig, meinen Vater hinter Gittern zu wissen. Mitte Dezember 1938 kehrte er, kahl geschoren, still geworden, heim.

[Frau:] Im Februar 1939 zog die Familie nach Köln in das Haus, das dem Onkel vor der Arisierung gehört hatte. Im Haus lebten die Großeltern, Tante, Cousin und weitere Verwandte. Der Onkel emigrierte Ende September 1939 nach Belgien, wurde nach Auschwitz deportiert und endete auf dem Todesmarsch im März 1945. Dezember 1941 wurden Tante und Cousin nach Riga deportiert, die Tante ermordet und ihr Sohn in Buchenwald befreit. Der Großvater „starb“ 1943 in Theresienstadt, die Großmutter wurde in Auschwitz ermordet.

[Mädchen:] Ab Ostern 1940 besuchte ich die jüdische Schule – Jawne – in der St. Apernstraße. Endlich war ich zusammen mit Kindern, die mir keine Angst einjagten und mit denen ich Freundschaften schloss. Die Klassenkameradinnen wohnten verstreut in der Stadt, deshalb konnte der Kontakt nach der Schule wenig gepflegt werden.

Ich ging gern zur Schule, wenn auch der Schulweg zwischen Nippes und der St. Apern-Straße mühsam war. Während des ersten Jahres – ich war 7 –, wurde ich auf dem Hinweg vom Cousin begleitet und abgeholt vom Großvater, später war ich allein und den Fragen der Gymnasiasten in der Straßenbahn ausgesetzt. Ich trug den Stern, so gut es ging, häufig verborgen unter dem Revers des Mantels oder hielt meinen Arm so, dass man ihn nicht entdeckte.

Inzwischen war mit Zustimmung meiner religiösen jüdischen Großmutter beschlossen worden, dass ich, jetzt acht Jahre alt, katholisch getauft werden sollte. Vorher gab es christlichen Religionsunterricht bei einer Nonne. und gleichzeitig in der Schule den jüdischen Religionsunterricht.

Die Nonne: „Die Juden haben auch schwere Schuld auf sich genommen, den Tod Jesu verursacht“.

Ich: „Dafür können doch meine Großeltern nicht.“

Die Nonne: „Sie hätten sich aber taufen lassen können!“

[Frau:] Der Antisemitismus war überall, die Ausgrenzung auch. Wo war man zuhause? Eher im Alten Testament oder mehr im Neuen Testament mit den schönen Wundern?

[Mädchen:] Der Junge, der mich an eine Straßenlaterne in der Viersener Straße band und etwas sagte wie „die Juden müssen ....“ war namentlich bekannt. Der örtliche Kaplan soll nachher mit ihm und seinen Eltern über diese Gemeinheit gesprochen haben. Hätte der Kaplan das auch getan, wenn ich nicht katholisch getauft worden wäre?

Nach zwei Schuljahren wurde die Schule geschlossen. Ich, die „Geltungsjüdin“ ‚ weil aus einer Mischehe stammend, wurde vorläufig nicht deportiert. Alle übrigen Kinder aus meiner Klasse wurden deportiert und ermordet.

Ab Ostern 1942 bis zur Befreiung durfte und konnte ich keine Schule besuchen.

Einziger Spielgefährte von 1939 bis 1942 war Ernst, der katholische Nachbarsjunge. Am 31.5.1942 wurde das Haus von Bomben zerstört. Diese Freundschaft hielt ein Leben lang.

Der Malermeister Oskar Söll kam aus der Südstadt mit einem Handkarren, um unsere fliegergeschädigte jüdische Familie zu sich nach Hause zu holen, was streng verboten war.

[Frau:] Es gab ihn also, den Widerstand. Oskar Söll, der kein Blatt vor den Mund nahm, war ein Beispiel dafür. Der häufige Satz „ja, was hätten wir denn machen können?“ ist eine Ausrede.

[Mädchen:] Nach der Zerstörung der Nippeser Wohnung 1942 wurde unserer Familie ein Wohnraum im „Judenhaus“ Mozartstraße 24 zugewiesen. Dort lebten ausschließlich Menschen aus sogenannten Mischehen, darunter zwei Jungen in meinem Alter – Spielgefährten. Im anderen Teil der Mozartstraße wohnten zwei christliche Familien, die Töchter in meinem Alter hatten. Diese Mädchen durften mit mir spielen. Ich wurde sogar in die Wohnungen der christlichen Familien eingeladen. Diese christlichen Mädchen hatten offensichtlich Eltern, denen der Gedanke „ja, was hätten wir denn dagegen machen sollen?“ nicht gekommen war und die sich über die Gefahr der möglichen Anklage und Verfolgung hinwegsetzten.

Mit 10 Jahren sollte ich die 1. Hl. Kommunion in der Hl. Kreuz Kirche, Köln, Lindenstraße empfangen. Bedingung war, dass meine Eltern sich vorher katholisch trauen ließen. Wie mag meinem Vater, der aus einer konservativen jüdischen Familie stammte, dabei zumute gewesen sein? Während der Feier der 1. HI. Kommunion übergab ich mich. Warum? Wegen des erstmaligen Fastens vor dem Empfang des Sakraments oder weil ich mit der Situation nicht zurecht kam?

Juden war es verboten, bei Bombenalarm öffentliche Luftschutzkeller aufzusuchen. Meine katholische Mutter und ich (jetzt ohne Judenstern) gingen trotzdem, der Vater blieb im Haus – im Keller. Die Bombenangriffe auf Köln waren heftig, die Angst um den Vater auch.

April 1944: Erneute Ausbombung und Einzug in ein noch kleineres Zimmer in der Lochnerstraße. Keine Kontakte mehr zu anderen Kindern. Anfang September 1944 dann die Flucht, zuerst nach Köln-Kalk, danach in ein bergisches Dorf. Mit Kindern hatte ich am Rande des bergischen Dorfes zwar etwas Kontakt, musste aber immer Geschichten erfinden, z. B. Antworten auf die Frage, warum ich nicht in die Schule ging.

Nicht polizeilich gemeldet, lebten Mutter und ich im Dorf, der Vater im Nachbardorf in einer Baracke. Mit der Mutter ging ich zu Bauern in der Nachbarschaft, wo Mutter gegen eine warme Mahlzeit Kleidung und Bettwäsche ausbesserte. Ab Januar 1945 meldete meine Mutter uns – natürlich mich ohne den Namenszusatz „Sara“ – polizeilich an, als Fliegergeschädigte aus Köln. Sie gab eine vorherige Adresse in Köln an, die frei erfunden war. Nachforschungen der Behörden wären zu der Zeit wegen der Zerstörungen durch den Krieg kaum erfolgreich gewesen. Dennoch begleitete sie die Angst vor Entdeckung.

Am 11. April 1945 befreiten amerikanische Soldaten das Dorf.

Ich konnte mir, wie auch andere Überlebende, nicht vorstellen, dass sich an der Gesinnung der Menschen, am Antisemitismus etwas geändert haben sollte. Nur äußern durften die Zeitgenossen ihre Judenfeindlichkeit jetzt nicht mehr.

[Frau:] Hannelore Göttling-Jakoby lebt heute in Hamburg, ist aber noch häufig in Köln und besucht dann auch die Gedenkstätte und die Ausstellung zur Geschichte ihrer früheren Schule an der St. Apern-Straße.

Zur heutigen Gedenkfeier wollte Frau Göttling-Jakoby nicht selbst kommen, weil nicht nur die Reise, sondern vor allem auch ein persönlicher Vortrag ihres Berichts sie zu sehr angestrengt und seelisch belastet hätte.

(Zigeuner-Kinder)

[Erwachs.:] Die rassistische Ausgrenzung und Verfolgung traf auch die in Köln und Umgebung lebenden Zigeunerkinder. Ab 1935 mussten nicht sesshafte Roma und Sinti in einem Lager in Bickendorf leben. Viele von ihnen, auch erst 12-jährige Mädchen, wurden sterilisiert. Ab 1939 durften Zigeunerkinder keine öffentlichen Schulen mehr besuchen. Im Mai 1940 wurden 1000 Sinti und Roma mit ihren Kindern in das besetzte Polen deportiert. Die meisten überlebten die Deportation nicht. 1942 wurden die letzten in Köln verbliebenen Familien in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau transportiert und dort ermordet.

Die Sintezza Theresia hat überlebt:

[Mädchen:] Ich wurde 1932 in Cramberg im Unterlahnkreis geboren, “unter‘m Zelt, das heißt unterwegs, wo wir gerade waren. Meine Mutter ist eine echte Sintezza. Mein Vater war Schausteller und wohl nur ein halber Sinto. Aber er und seine Geschwister haben unsere Sprache, Romanes, gesprochen.

Meine Familie hatte damals kein festes Quartier. Im Winter schliefen wir bei Backhäusern, wenn es draußen ganz kalt war. Wir waren mit bunten Wagen unterwegs. Heute gibt es die gar nicht mehr.

Als ich sechs Jahre alt war, also 1938, kamen wir nach Köln. Wir sind in Bickendorf im Zigeunerlager gelandet. Zigeuner wurden zu der Zeit schon oft aufgehalten unterwegs, eingesperrt und alles. In Bickendorf hatten wir aber noch unseren Zigeunerwagen. An dem Lagerplatz standen auch feste Häuser, da lebten jüdische Familien drin.

Mit sieben kam ich in die Schule, und meine Schwester ging direkt mit. Zwei Jahre sind wir zur Schule gegangen in Köln-Ehrenfeld. Alle Kinder aus der Gegend gingen da in die Schule. Bald durften wir keine Straßenbahn mehr benutzen, alles Öffentliche war für uns verboten, wir sind da zu Fuß hin gegangen. Und eines Tages, da gehen wir da die Straße lang und die Schaufenster von den Juden waren alle kaputt. Die Sachen lagen auf der Erde. Wir sind weiter gegangen zur Schule. Da waren die ganzen Schulkinder. Und das Fräulein stand dabei. Die stand dabei – und die Kinder haben uns mit Steinen beworfen. Und dann haben sie groß eine Parole auf ein Stück Stoff geschrieben: „Zigeunern und Juden ist die Schule verboten”. Das stand da geschrieben!

Bei uns war – das vergesse ich nie – eine Nina, die hat einen Stein auf den Kopf gekriegt. Die ist daran gestorben. Wir sind dann voller Panik, voller Angst, nach Hause gelaufen.

Eines Morgens, das war 1940, kamen sie mit großen Lastwagen. Man durfte nur mitnehmen, was man anhatte. Und dann haben sie uns mit den Lastwagen zu einer großen Halle gefahren, da waren wir drei Tage drinnen. Frauen, Männer und Kinder. Dann haben sie uns an den Zug gebracht, in Waggons. Das waren keine Personenzüge, Viehwaggons waren das mit Stroh auf der Erde! Ohne Essen, ohne Trinken, ohne alles. Drei oder vier Tage, genau weiß ich das nicht mehr, waren wir unterwegs. Da sind so viele Babys gestorben!

Wir wussten nicht, wo wir hinkommen. Die haben gesagt, es sei wegen der Bomben … Sie würden uns evakuieren. Das haben sie uns gesagt, ja. Die haben nicht gesagt: “Ihr kommt ins Lager.”

Sie haben uns nach Siedlce in Polen gebracht. Das war ein Ghetto für Juden, wie eine Stadt, mit Geschäften, mit Ärzten, mit allem. Und es war alles mit einem Zaun abgesperrt. Mein Vater musste in einem Außenkommando Straßen bauen, Straßen teeren.

Wir wohnten in Baracken, und wir lebten dort wie die Ameisen! Deswegen habe ich heute noch Angst, wenn ich irgendwo bin, wo alles geschlossen ist, dann kriege ich Panik. Ich kann keinen Aufzug fahren. Aber auch im Bus oder in der Straßenbahn bekomme ich Panik. Weil wir alle so eng eingepfercht waren: Pritschen, Pritschen, Pritschen. Da bist du morgens aufgestanden: Da war einer tot, und da war noch einer tot ... Und da hast du nur noch geguckt, ob er noch ein Stückchen Brot in der Hand hat. Das hat dich nicht mehr interessiert, ob der tot war. Hauptsache, was zu essen!

Im Ghetto bekam man nur etwas zu essen, wenn man arbeitete. Wenn das Essen ausgeteilt wurde, wurden die Namen aufgerufen, es gab immer lange Schlangen. Ich war damals acht Jahre alt. Und wir Kinder hatten ja Hunger, wir standen immer am Zaun! Die Polen haben uns oft was rüber geschmissen, Brot, Mohrrüben, Holz zum Heizen ... Wir kriegten im Ghetto fast nichts zu essen. Wir kriegten ein Viertel Brot, das musste für zwei oder drei Tage ausreichen. Und dann so eine Suppe aus Zuckerrüben. Dafür mussten wir uns anstellen, und wenn man letzte war, war der große Kessel leer, da hat man nichts mehr gekriegt. Für Wasser musste man sich an einem öffentlichen Brunnen anstellen, der nur zu bestimmten Zeiten geöffnet war. Das Leben bestand nur aus Hunger und Angst und Hunger und Angst.

Die Cousine meiner Mutter und deren Sohn, die haben auch da am Zaun gestanden und Polen haben Brot geworfen – aber ein Posten hat das gesehen und sie alle beide erschossen. Ich bin direkt weggelaufen. Wir haben ja immer nur geguckt, wo man was zu essen kriegte. Nur Hunger, Hunger, Hunger.

Dann haben sie uns wieder zusammengetrieben und wir mussten von dem großen Ghetto in das kleine Ghetto. In dem großen Ghetto haben sie alle umgebracht! Alle! Die, die sie zum Arbeiten noch gebraucht haben, die hatten sie rausgesucht. Und die anderen … Das vergess’ ich nie! Überall lagen Tote, dann mussten wir Kinder die Toten alle aufsammeln, auf diese Karren. Das waren zwei große Räder und so eine Karre. Und dann mussten wir die bis zu einer Kiesgrube fahren. Dort waren schon andere Juden, die sie vergraben haben. Hier guckte noch ein Fuß raus, da guckte noch ein Arm raus …

Nachdem sie die Juden ermordet hatten, hat die SS die Zigeunerbaracken im großen Ghetto zerstört. In dem kleinen Ghetto mussten wir Schützengräben ausheben. Ob es kalt war, ob es regnete, wir tief im Wasser wateten ... Da war ich ungefähr zwölf Jahre alt.

Als die russische Armee immer näher kam, da haben sie uns noch einmal weiter getrieben … Sie haben uns nach Gesi Borek geschleppt, wo wir in einer Glasfabrik arbeiten mussten. Lange mussten wir mitten im Winter durch den Schnee laufen. Da sind unterwegs viele umgefallen, als wir ankamen, waren bestimmt schon 20 von uns tot. Wir hatten ja keine vernünftigen Kleider, keine Schuhe, nur alte Säcke um die Füße gebunden.

Die Glasfabrik war neben einer Bahn. Mein Vater arbeitete dort auf dem Gleisbau, und wir Kinder mussten in die Fabrik, Scherben und alles aufkehren. Ich habe heute noch Schnittwunden an den Beinen von den Glasscherben, weil ich immer in die Scherben fiel, wenn der Aufseher mich schlug oder umstieß.

Wir mussten jeden Morgen zum Appell. “Raus!” Da standen sie da. Jeder musste sich vor seinem Haus hinstellen. “Raus!” Wehe, wenn noch einer sich versteckte. Einer hatte sich hinten versteckt, den haben sie direkt abgeknallt. Dann musste man den Namen sagen, vor Angst wussten wir unseren Namen nicht mehr. Juden hatten ja den Stern, und wir hatten eine weiße Armbinde mit dem “Z”. Und dann standen wir da draußen, ob kalt, ob Sommer, und haben gezittert: “Jetzt sind wir dran, jetzt werden wir erschossen.” Manche hatten gar keine Angst mehr, manchen war alles egal. Vor uns allen haben sie ein paar abgeschossen oder mit dem Gewehrkolben einfach drüber geschlagen, und wieder rein. Und so ging das jeden Tag.

Meine jüngere Schwester Natascha, die ist im ersten Ghetto gestorben. Sie hat Typhus gehabt. Mein ältester Bruder war drei Jahre alt, als wir ins Lager deportiert wurden. Und wegen seiner Ängste seit seiner Lagerzeit kann er heute noch nicht einmal in ein Geschäft gehen, um sich ein Stück Brot zu kaufen! Meine Cousine haben sie direkt umgebracht. Sie war die Tochter der Schwester meiner Mutter. Die ist nach Treblinka gekommen. Von Gesi Borek aus. Treblinka war ja nicht weit von Gesi Borek.

Ja, und dann waren immer weniger Posten da. Einen Tag war gar keiner zu sehen, dann waren sie wieder da. Und dann kamen sie mit dem großen Überfallkommando. So und so viel Sinti haben sie mitgenommen, die kamen nach Treblinka. Und die Juden haben sie direkt an Ort und Stelle alle erschossen, auch einige Sinti, und dann sind sie wieder gefahren. Ein paar Tage später kamen die Russen, die haben uns dann befreit.

[Mann:] Nach der Befreiung kam Theresia mit ihrer Familie zunächst in ein Auffanglager in Polen, zu Fuß sind sie dann von der Oder aus nach Köln zurück. Zunächst lebten sie in einer Kaserne in Ossendorf, später gingen sie erneut auf Reisen. Von den Behörden wurde versucht, sie zu Staatenlosen zu machen, aber Theresia wehrte sich erfolgreich. Sie lebt heute in Hürth.

[Frau:] Meinen Kindern habe ich nie etwas erzählt. Ich habe heute noch Albträume, dann stehe ich auf und bin total nass geschwitzt. Ich sehe immer wieder, wie sie uns da aus dem Waggon raus getrieben und in das Ghetto gesteckt haben, hinter uns ging das Tor zu, und dann nichts zu essen, Schläge und Hunger und Angst und Demütigung.

Wir waren keine Menschen mehr, wir waren für die ein Stück Dreck. Die haben uns da ja rein getan, um uns zu vernichten. Und sie haben nicht gedacht, dass überhaupt irgendwelche von uns wieder lebend zurückkommen.

(Zwangsarbeiterkinder)

[Erwachs.:] Nicht gedacht, dass sie wieder lebend zurückkommen – in ihre Heimat – haben auch viele der etwa 100.000 nach Köln verschleppten Zwangsarbeiter, vor allem aus der Sowjetunion und Polen, oft ganze Familien mit ihren Kindern. Schon auf den manchmal wochenlangen Transporten in Güterwagen starben viele der Kinder. In Köln angekommen, mussten die Eltern Zwangsarbeit leisten und ihre Kinder tagsüber in den Baracken und Massenunterkünften, zum Beispiel im Hansahochhaus, zurücklassen. Dort waren sie sich selbst überlassen, durften nicht zur Schule, litten Hunger und wurden schnell krank.

Unter diesen Bedingungen starben auch viele, so zum Beispiel die zweijährige Galina Trafimowa. Schon auf dem zwei Monate dauernden Transport von Weißrussland hierher war sie krank geworden, durch die Misshandlungen beim Abtransport:

Ihre ältere Schwester erzählte später:

[Frau:] "Die Deutschen haben sie am Beinchen gepackt und in den LKW geworfen. Sie ist wohl durch diesen Schock krank geworden und nicht mehr zu sich gekommen. Meiner Mutter ist nur dieses Foto geblieben, das Totenbettchen mit der Familie. In ihrer Anwesenheit wurde meine Schwester mit Kalk bedeckt, der Sarg wurde zugenagelt und zu einem Friedhof gefahren."

[Mann:] Viele Kinder kamen auch bei den Bombenangriffen um. Jan Stasiak, links mit anderen Zwangsarbeitern zusammen, war aus Polen, ebenfalls mit seiner gesamten Familie, nach Köln verschleppt worden. Seine Frau Moedalia lief bei einem Fliegeralarm mit ihren beiden Söhnen zu einem Bunker, als in der Nähe schon eine Bombe explodierte. Den zweijährigen Stanislaw trug sie auf dem Arm:

[Frau:] "Er knirschte mit den Zähnen. Ich denke, was knirscht er so? Ich schaue und mein Kind lebt nicht mehr. Es ist mir auf dem Arm gestorben. Der andere Kleine fasste mich an der Hand und sagte 'Mami', ich schaue, mein Kind rollt die Augen und stirbt. Ich weiß nicht, was es war, ob es ein Gift war oder so etwas."

[Mann:] Allein bei diesem Angriff sind in dem Lager 20 Kinder umgekommen, von den bis zu dreijährigen fast alle.

(Kölner Kinder als Bombenopfer)

[Erwachs.:] Doch auch viele Kinder Kölner Familien gehörten zu den Opfern. Bei der Vorbereitung auf den von den Nazis geplanten Krieg war es vielleicht noch abenteuerlich, bei den Alarmübungen mitzumachen. Doch als der Krieg nach Deutschland zurückschlug, waren unter den 20.000 Kölner Bombenopfern auch tausende Kinder. Sie hatten, anders als viele ihrer Eltern, die Nazis nicht gewählt und ihren Krieg nicht mitgemacht. Sie waren, wie alle Kinder, hilflose Opfer der Nazipolitik.

Doch Kinder als Opfer von Gewalt, Krieg und Hunger, das ist leider nicht Vergangenheit. Bis heute leiden darunter Millionen auf der ganzen Erde, versuchen auch vor dem Elend zu fliehen, einige kommen so auch nach Köln.