Köln, 16.11.2007 - 'Heimaterde oder Kratzer' - Theaterstück der kolumbianischen Gruppe 'Resistenca Itinerante'Bilder

„Heimaterde oder Kratzer“

Ein Theaterstück der kolumbianischen Gruppe „Resistenca Itinerante“ - Anneliese Fikentscher in 'Neue Rheinische Zeitung', 14.11.2007

„Terruño o Aruño“ ist der Titel eines Theaterstückes der kolumbianischen Kollektivtruppe „Resistencia Itinerante“, bestehend aus 13 jungen Menschen. „Heimaterde oder Kratzer“ lautet die einfache Übersetzung. Es geht um die Heimaterde im eigentlich reichen Land Kolumbien – an Fläche dreimal so groß wie Deutschland –, in dem seit über vierzig Jahren die Bevölkerung in einem militärischen Mächtespiel um Geostrategie und Ressourcen zerrieben wird.

„Das Phänomen der Paramilitärs wird in Kolumbien und im Ausland meist als Antwort einiger Bevölkerungsgruppen auf die Aggression der Guerilla dargestellt“, analysiert der Jesuit und ehemalige Exekutivsekretär der kolumbianischen Menschenrechtsorganisation Comisión Intercongregacional de Justicia y Paz, Javier Giraldo S.J., „aber es ist kaum widerlegbar, dass die paramilitärische Strategie des kolumbianischen Staates auf die Zeit vor der Guerilla zurückgeht. Michael McClintock entdeckte Papiere des Pentagon, die beweisen, dass die US-Regierung bereits 1962 der kolumbianischen Regierung die paramilitärische Strategie empfohlen hat – als Mechanismus, dem Kapitalismus abträgliches Denken auszuschalten. Geheime Handbücher des kolumbianischen Militärs zeigen, dass diese seit damals als staatliche Strategie funktioniert. Nur so wird verständlich, warum heute im ganzen Land so enge Beziehungen zwischen Militärs und Paramilitärs bestehen. Wer das aktuelle Phänomen des Paramilitarismus im historischen Kontext sieht, weigert sich deshalb, die Paramilitärs als einen 'dritten Akteur' im bewaffneten Konflikt anzuerkennen. Sie sind kein dritter Akteur, sondern der klandestine und illegale Arm des Staates, der seit Jahrzehnten existiert. Diese historische Perspektive macht es ebenfalls unmöglich, den kolumbianischen Staat als Rechtsstaat zu sehen."

Kolumbien ist das Land mit einer welthöchsten Anzahl an Binnenflüchtlingen – rund drei Millionen Kolumbianer sind Flüchtlinge im eigenen Land. Die „Kratzer“ befinden sich im Fleisch und auf den Seelen der Geschundenen, und vor allem liegen sie im System – nicht zuletzt im System der Betrachtung.

Die multimedial inszenierte Theaterarbeit konfrontiert die Besucher mit der Situation der Menschen in geradezu auswegloser Lage. „Da ist niemand in der Gruppe, der oder die nicht Freunde oder Verwandte hatte, die bei einem Überfall oder Massaker umgekommen wäre“, erklärt Theaterpädagogin Inge Kleutgens die Ausgangslage für den Ansatz des Zivilen Friedensdienstes Arbeitsgemeinschaft Entwicklungshilfe (AGEH). Über die Theatererfahrung können Bewältigungsstrategien entwickelt werden, die nicht nur für die Bühne taugen. Nach dem großen Vorbild „Theater der Unterdrückten“ des Brasilianers Augusto Boal – der aufgrund der Wirksamkeit seiner kritischen Stücke das Land verlassen musste – dürfen die BesucherInnen gespannt sein auf ein Stück in spanischer Sprache, das ohne komplizierte Handlung und mit reduzierten verbalen Sprachanteilen allgemein verständlich sein soll. „Es bringt ihren Kampf auf die Bühne: Vertreibungen, Flucht, Gewaltexzesse und Zerstörungen führen zu Elend, Verzweiflung und Trauer“, so die Ankündigung. Die nicht-verbale Sprache im Brecht-Boal’schen Veränderungs-Perspektiv-Ansatz geht unter die Haut und projiziert die Kratzer auf die Seelen auch nicht lateinamerikanischer Betrachter, die in den Genuss einer Vorstellung im Rahmen der Europa-Tournee des kolumbianischen Ensembles „Resistencia Itinerante“, zu deutsch „Wandernder Widerstand“, kommen.

Das Theaterstück „Terruño o Aruño“ wurde speziell entworfen, um die Arbeit der Basis- und kirchlichen Organisationen – gemeinsam mit den fünf Bistümern der Region – künstlerisch zu begleiten. Die Kirche in Lateinamerika tritt für die arme Bevölkerung ein und wird daher selbst oft zum Opfer. Die gemeinschaftliche Arbeit versteht sich als ein „Beitrag zur Unterstützung des friedlichen Widerstandes und zur Bestätigung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte der Einwohner des kolumbianischen Pazifikraumes.“ Nach Bilbao und Madrid als Stationen finden Aufführungen in Saarbrücken, Trier, Köln und Aachen statt, bevor es abschließend in die Schweiz, nach Bern, Luzern, Lausanne und Zürich geht. Am 20. November 2007 wird dem UN-Komitee in Genf ein Bericht über das „Recht auf Nahrung und Territorium“ vorgelegt, der im Rahmen des regionalen Koordinations- und Landnutzungsprozesses erstellt wurde.

Inge Kleutgens ist Theaterpädagogin und Friedensfachkraft der AGEH. In Zusammenarbeit mit der Diözese Quibdó inszeniert sie Theaterstücke mit vorwiegend jungen Erwachsenen. Auf der Bühne geht es um menschliche Konflikte, die anscheinend im wirklichen Leben nur schwer lösbar sind. Zusätzlich bildet sie künftige Gruppenleiter aus, die die Theaterarbeit als Mittel zur Konfliktlösung in verschiedenen kolumbianischen Dörfern weiterführen.

Esteban Vergara, der junge kolumbianische Fotograf begleitet(e) die Theatergruppe. Seine Bilder verleihen den kolumbianischen Farben eine starke Individualität – von grell bis lebensfroh bis hin zu gedämpft, bedrückter Monochromie. 2008 wird er eine Einzel-Ausstellung in der Galerie Arbeiterfotografie in Köln haben.

Hintergrundinformation – speziell auch über die Mediensituation in Kolumbien und Lateinamerika: Informationsstelle Lateinamerika mit Sitz in Bonn: www.ila-web.de