20 Jahre Galerie Arbeiterfotografie - Marie Goslich (1859-1936)
Poesie der Landstraße
(erschienen in der Zeitschrift Arbeiterfotografie, Ausgabe 93/94)

Die 1859 geborene Eva Marie Elwine Goslich war 44 Jahre alt, als sie im Jahr 1903 die damals noch sehr schwierige Technik des Photographierens erlernte. Krystyna Kauffmann wollte wissen, wer diese Frau war, deren Berufsbezeichnung im Berliner Einwohnerverzeichnis von 1902 „Frl. Marie Goslich, Schriftstellerin und Redakteurin" lautete. Im Jahr 2008 stieß sie auf ihrer Suche im Gasthaus Baumgartenbrück in Geltow am Schwielowsee auf 400 Glasnegative mit Photographien, die die Heimatforscherin Lieselotte Herrmann über die Kriege hinweg gerettet hat. Neben Goslichs Liebe zur märkischen Landschaft sind ihre wesentliche Motive die Menschen: Wandervolk, Straßenverkäufer, Bettler, Lumpensammler, ruhende Trinker am Straßenrand, spielende Kinder, Freizeitsportler, arbeitende Fischer und ihre Familien. Krystyna Kauffmann schreibt:

Im Kirchenbuch der Nikolaikirche in Frankfurt an der Oder findet sich der Vermerk, dass Eva Marie Elwine Goslich am 24. Februar 1859 geboren wurde. Der Tag der Taufe war am 10. April desselben Jahres; die Taufzeugen waren unter andern Justizrat Rudolf Tirpitz und Rittergutbesitzer Leopold Karbe. Diese knappe Eintragung ist das einzige amtliche Dokument, welches die Suche nach dem Leben und Schaffen der Journalistin, Photographin und Erzieherin zutage gefördert hat.

Eine Vorstellung von dem Lebenslauf dieser Frau vermögen die Notizen und die auf Tonband aufgenommenen Erinnerungen von Lieselotte Herrmann (1909-81), der Besitzerin des Gasthauses Baumgartenbrück in Geltow am Schwielowsee, zu geben; des weiteren ein 1980 verfasster Brief des Adoptivsohnes von Marie Goslich, in dem er seine Erinnerungen an seine Mutter schildert. [...]

Marie Goslich war die jüngste Tochter des 1807 in Berlin geborenen und 1875 in Frankfurt an der Oder verstorbenen Friedrich Julius Goslich. Im »Handbuch für den Königlich Preußischen Staat und Hof« für das Jahr 1875 ist er als Appellationsgerichtsrat in Frankfurt a.d. Oder und als Träger des Roten Adlerordens 4. Klasse eingetragen. Die Mutter Marie Rosalie Elwine Hesse entstammte der Familie von Bredow, wurde in Spandau geboren und starb 1865 ebenfalls in Frankfurt a.d. Oder. Die Schwester Elsbeth Valesca Goslich (1855-1923) war in Berlin als Lehrerin tätig und erlitt während der Wirtschaftskrise nach dem Ersten Weltkrieg das Schicksal vieler Menschen damals - sie starb völlig unterernährt mit einem Gewicht von nur 56 Pfund. Über Maries andere Geschwister wissen wir nichts.

Von 1865 bis 1875 besuchte Marie Goslich die Städtische Höhere Töchterschule in Frankfurt a.d. Oder. Über ihre Erziehung schreibt Hans Kuhls, ihr Adoptivsohn, dass sie standesgemäß, wenn nicht sogar exklusiv war. Das einzige authentische Schriftstück indes, aus dem man auf die Erziehung und den Einfluss des Vaters auf ihre spätere Denkweise schließen kann, ist ein Leserbrief, den sie 1914, viele Jahre nach dessen Tod, geschrieben hat. [Darin zitiert sie ihren Vater:] »Der Mann kauft Grundstücke, nur um sie wieder zu verkaufen; es ist der reinste Grundstückhandel. - In ein solches Haus soll meine Tochter nicht gehen.«

Nach dem frühen Tod der Eltern lebten die beiden finanziell sehr gut abgesicherten Schwestern im Hause des ersten Taufzeugen und Vormunds von Marie Goslich, dem Königlich Preußischen Geheimen Justizrat Rudolf Tirpitz (1811-1905), Vater von Alfred von Tirpitz. Er war ein Studienfreund ihres Vaters gewesen. Von 1877 an erlernte sie die Haushaltsführung im Hause ihres zweiten Taufzeugen, dem Rittergutsbesitzer Leopold Karbe in Hertwigswaldau (Snowidza PL) in Schlesien. Ihre spätere Vorliebe, Landschaften zu beschreiben und zu photographieren, und auch ihr Geschmack an der Eleganz ausgefallener Inneneinrichtungen, die auf einigen Photographien zu sehen sind, mag auf das schöne, von riesigen Parkanlagen umgebene Rittergut unweit von der Oder zurückgehen, wo man von den Terrassen aus in die weite Ferne schauen konnte. Marie Goslichs Adoptivsohn berichtet, dass seine Mutter sehr viel über diese Zeit erzählt und in ihren Memoiren begeistert darüber geschrieben hat.

In einem Pensionat in Dresden erhielt sie Unterricht in Sprache, Musik und Schneiderei. 1882 ging sie in die französische Schweiz, um ihre Französischkenntnisse zu vertiefen.

Wann Marie Goslich nach Berlin übersiedelte, ist nicht bekannt. Sie war hier zunächst als Erzieherin und Privatlehrerin für Französisch tätig und wohnte in der sogenannten Republik Lützow-Ufer bei ihren Tanten Laura Delbrück - der Mutter des Historikers und Herausgebers der Preußischen Jahrbücher, Hans Delbrück -, und Helene und Irene von Henning. Von 1891 an arbeitete sie denn auch als Redaktionssekretärin im Verlag der »Preußischen Jahrbücher«, wo sie die Artikel »Kreta« 1898 und »Briefe von Johanna Kinkel« 1899 veröffentlichte.

Nach dem Ausscheiden aus der Redaktion nahm sie ihre Tätigkeit als Lehrerin wieder auf und unterrichtete die Tochter des Oberstallmeisters Graf von Wedel. Ihre schriftstellerische und journalistische Tätigkeit gab sie jedoch nicht auf, wie ihre zahlreichen Veröffentlichungen in Berliner Tageszeitungen und Illustrierten Zeitschriften zeigen. In den Jahren 1907 bis 1910 war sie Redakteurin bei der Zeitschrift »Körperkultur«. Der Anteil eigener Publikationen, die sie zudem reichlich mit eigenem Bildmaterial illustrierte, war dort beachtlich.

Im Berliner Einwohnerverzeichnis der Jahre von 1902 bis 1910 findet sich der Eintrag: Marie Goslich, Frl. Schriftstellerin und Redakteurin. Eine derartige Berufsbezeichnung war damals für eine Frau mehr als ungewöhnlich. Im Februar 1910 heiratete sie in Berlin den Schriftsteller Karl Kuhls. Von diesem Zeitpunkt an veröffentlichte sie einige ihrer Beiträge unter dem Namen Marie Kuhls oder Marie Kuhls-Goslich. 1911 zog das Ehepaar Kuhls-Goslich nach Potsdam. Marie Goslich wurde Mitglied der Redaktion im dort ansässigen Stiftungsverlag, und von 1916 bis 1920 war sie verantwortliche Schriftleiterin in dem »Boten für die deutsche Frauenwelt«. Nach der Trennung von Karl Kuhls, dessen 1915 geborenen unehelichen Sohn Hans Kuhls sie adoptierte, zog sie nach Geltow, zuerst in das Gasthaus Baumgartenbrück der Familie Herrmann und dann in das Haus der Familie Rottstock in der Havelstraße 4. In dem Geltower Adressenverzeichnis ist sie zuletzt 1936/37 als Marie Kuhls, Schriftstellerin, aufgeführt.

Marie Goslich war bereits vierundvierzig Jahre alt, als sie die damals noch sehr schwierige Technik des Photographierens erlernte, doch dann wurde diese Tätigkeit zu ihrer Leidenschaft. [...] In der kurzen Zeit zwischen 1905, dem Jahr ihrer ersten mit eigenen Aufnahmen illustrierten Veröffentlichung, einer dreiteiligen Reportage über den Spreewald, und den Jahren des Ersten Weltkrieges hat sie zahlreiche für die damalige Zeit typischen, aber auch viele ungewöhnliche Motive ins Visier genommen. [...]

Es überrascht, wie geschult das Auge der Photographin war und wie oft sie Personen und andere Bildelemente an imaginären diagonalen Linien entlang arrangierte. [...] Die Inszenierung der Menschen in der sie umgebenden Landschaft betont ihre Natürlichkeit. Marie Goslich gelingt es, ihre Haltung und Bewegungsabläufe in der für die jeweilige Situation angemessenen, typischen Art zu gestalten. [...]

Die Tiefe und Detailtreue, die Lebendigkeit der analogen Photographie ist den chemischen Eigenschaften der Bromsilber-Gelatine-Emulsion zu verdanken. Diese wird auf eine Glasplatte aufgetragen, und das feinkörnige Silber, wenn es dem Licht ausgesetzt wird, verschwärzt so, dass noch die subtilsten Schattierungen zwischen Hell und Dunkel widergespiegelt werden. Nach dem Fixieren und Wässern entsteht das Negativ - im Falle von Marie Goslich eine Glasplatte in der Größe von 13x18 Zentimetern. Der Anteil des feinkörnigen Silbers in den Emulsionen ermöglicht eine sehr hohe Auflösung des Bildes. [...]

Nicht nur die Beherrschung der technischen und gestalterischen Mittel ist der Grund für die Faszination, die die Photographien von Marie Goslich auf uns ausüben. Wichtiger noch sind die von ihr ausgewählten Motive. Bei vielen ihrer Aufnahmen kann man erkennen, dass sie vorwiegend zur Illustration von Reportagen über gesellschaftliche Situationen und soziale Missstände aufgenommen worden sind. Vor allem für die Zeitschrift »Die Woche«, die Photographie als medienwirksames Mittel forciert einsetzte, illustrierte Marie Goslich ihre Beiträge mit zahlreichen Aufnahmen in einer Weise, wie sie noch heute im Photojournalismus üblich ist. Ihre Bilder wurden aber auch von anderen Zeitschriftenautoren akzeptiert und zur Illustration von deren Schriften verwendet. [...]

Ungewöhnlich für eine Frau, zumal aus ihrer Gesellschaftsschicht, wehrte sie sich mit Wort und Bild gegen die Zerstörung der alten Infrastruktur in den Städten und photographierte in diesem Zusammenhang die Berliner Innenhöfe, wo damals noch Kühe gehalten und Milchprodukte hergestellt wurden. Gassen und Straßen, in denen noch kleine märkische Häuser stehen, erfasste sie auf eine Weise, die deren baldiges Ende suggerierte. Auch Szenen von Gebäudeabrissen oder Umbauten alter Häuser finden sich auf ihren Glasnegativen. Kähne, Speicher, Brücken und im Hafen arbeitende Menschen zeigen zugleich die Dynamik einer im Wachsen begriffenen Großstadt.

[...] Dass Marie Goslich das Gespür für die soziale Gerechtigkeit von Jugend an nicht fremd war, vermittelt bereits der oben zitierte Leserbrief an die Zeitschrift »Bodenreform«. Hans Kuhls schreibt ferner über seine Mutter, dass »sie ein politischer Mensch war, dem die Monarchie alles bedeutete. Aber sie hatte den Mut zur offenen Kritik an den einzelnen Monarchen, wie z.B. an den letzten Kaisern, und nach 1933 an Hitler, den sie für einen politischen Abenteurer hielt.«

[...] Ihrer sehr kritischen Einstellung zu den Mietskasernen und den Wohnbedingungen der ärmeren Bevölkerung ist zu entnehmen, dass sie sich nicht allein professionell, sondern auch persönlich mit diesem Thema befasste. Marie Goslich war eine mutige, engagierte Frau, die uns vieles von dem, was sie liebte und dem, wofür sie kämpfte, in Bild und Wort hinterlassen hat. [...]

Krystyna Kauffmann in 'Die Poesie der Landstraße. Marie Goslich 1859-1936', Lukas Verlag, Berlin 2008


Eine frühe Arbeiterfotografin? - Eva Marie Elwine Goslich (1859 - 1936)
Die Poesie der Landstraße
(erschienen in Lokalberichte Köln, 17.9.2010)

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erhält die aus bürgerlichem Haus stammende Marie Goslich mit 44 Jahren die Gelegenheit, das Handwerk der Fotografie zu erlernen. Kamera, Stativ und damit schweres Gerät trägt sie hinfort durch Straßen und Landschaft, um ihre Bildmotive zu finden. Die ungewöhnliche Frau in einem ausschließlichen Männerberuf fotografiert einen Mann mit typisch weiblicher Beschäftigung: den strickenden Schäfer vor der Mühle in Geltow. Ihre begehrtesten Motive sind die Menschen: Wandervolk, Straßenverkäufer, bäuerliche Szenen, spielende Kinder, die Eva Marie Elwine Goslich auf ihre 13 x 18 cm großen Glasnegative bannt. Marie Goslich ist eine der ersten (sozialkritischen) Fotojournalistinnen ihrer Zeit, sie verfaßt eigene Artikel. Die Kuratorin Krystyna Kauffmann hat mitgewirkt an der Aufarbeitung des 410 Glasplatten zählenden Nachlasses: „Ungewöhnlich für eine Frau, zumal aus ihrer Gesellschaftsschicht, wehrte sie sich mit Wort und Bild gegen die Zerstörung der alten Infrastruktur in den Städten und photographierte in diesem Zusammenhang die Berliner Innenhöfe, wo damals noch Kühe gehalten und Milchprodukte hergestellt wurden. Gassen und Straßen, in denen noch kleine märkische Häuser stehen, erfasste sie auf eine Weise, die deren baldiges Ende suggerierte.“

Ausstellung, Edition und Zeitschrift

Die Galerie Arbeiterfotografie zeigt etwa 40 Aufnahmen im vollen Format der Abzüge mit den lagerungsbedingten Alterungsspuren der Gelatine. Aus dem Nachlaß ist ein Bild für die Edition freigegeben, die zum 20jährigen Bestehen der Galerie Arbeiterfotografie erscheint. Es ist die Aufnahme des Schäfers beim Stricken. In der Edition befinden sich sechs weitere Fotoarbeiten (Jörg Boström, Steve Cagan, Horst Sturm, Hans Peter Jost, Senne Glanschneider und Günter Zint) und eine zum speziellen Anlaß gefertigte handcolorierte Druckgrafik des Berliner Künstlers Thomas J. Richter. Die Einkünfte aus dem Verkauf sind dazu bestimmt, das weitere Agieren der Galerie zu ermöglichen - nach dem der Kölner Kulturetat für die Anerkennung des langjährigen, unkommerziellen Wirkens keinen Cent übrig hatte. In der druckfrisch erschienenen Ausgabe der Zeitschrift Arbeiterfotografie (93/94) finden sich mehrere Artikel über das 20jährige Galerie-Jubiläum, darunter einer über Marie Goslich mit einem Text von Krystyna Kauffmann.

Anneliese Fikentscher


Ausstellung der Galerie Arbeiterfotografie
Marie Goslich (1859 - 1936) - eine frühe „Arbeiterfotografin“?
(erschienen in Unsere Zeit, 17.9.2010)

Marie Goslich ist eine ungewöhnliche Frau und ihr Werk ist rund 100 Jahre später eine Entdeckung, die einer Sensation gleichkommt. Mit 44 Jahren erst erlernt sie die Technik des Fotografierens und zieht fortan mit ihrer schweren Plattenkamera und einem Stativ umher. Als Reporterin sind ihre beliebtesten Motive neben der havelländischen Landschaft die Menschen, zu denen sie - das verraten ihre Aufnahmen - einen besonderen Zugang findet: die Fischer auf den unzähligen Seen, bäuerliche Szenen, ein strickender Schäfer vor der Mühle in Geltow. Immer wieder Menschen: Wandervolk, Straßenverkäufer, Bettler, Lumpensammler und Kesselflicker, ruhende Trinker am Straßenrand. Ein Konvolut von 410 Glasplatten rettete die Heimatforscherin Lieselotte Herrmann im letzten Wohnort der Marie Goslich in Geltow am Schwielowsee vor dem unwiderbringlichen Verlust. Die Kuratorin Krystyna Kauffmann wirkte mit bei der Aufarbeitung der Lebensgeschichte. In eigenen Texten beklagt die früh verwaiste, aus wohlhabendem Hause stammende Marie: „Aber ohne die Arbeit der Heimarbeiterinnen würden viele ‘elegante Damen’ gar nicht elegant sein können, denn dieses Elend hat ja seinen Grund in der schlechten Bewertung der Arbeit ... ja so manche elegante Existenz ist aufgebaut auf der klug berechneten Ausnutzung der schlecht gelohnten Arbeit.“ 1936/1937 ist die starke Frau Marie Goslich, verheiratete und geschiedene Marie Kuhls, nur noch im Geltower Adressbuch mit dem Eintrag „Marie Kuhls, Schriftstellerin...“ zu finden. Über ihre Todesursache wurde nichts bekannt.

Ausstellung, Edition und Zeitschrift

Die Galerie Arbeiterfotografie zeigt das volle Format der Abzüge der im Original 13 x 18 cm großen Glasnegative. Ein Bild aus dem Nachlaß ist für eine Edition freigegeben, die zum 20jährigen Bestehen der Galerie Arbeiterfotografie erscheint. Es ist das Bild des Schäfers beim Stricken. Neben sechs weiteren Fotoarbeiten von Jörg Boström, Steve Cagan, Horst Sturm, Hans Peter Jost, Senne Glanschneider und Günter Zint befindet sich eine handcolorierte Druckgrafik des Berliner Künstlers Thomas J. Richter. Die Einkünfte sind dazu bestimmt, das weitere Agieren der Galerie zu ermöglichen. In der druckfrisch erschienenen Ausgabe der Zeitschrift Arbeiterfotografie (93/94) finden sich mehrere Artikel über das 20jährige Galerie-Jubiläum, darunter einer über Marie Goslich mit einem Text von Krystyna Kauffmann. (af)


Marie Goslich war eine der ersten professionellen Fotografinnen. Ihre Werke werden jetzt in mehreren Ausstellungen gezeigt.
Poesie der Arbeit
(erschienen in junge Welt, 24.9.2010)

Im Berliner Einwohnerverzeichnis für 1902 bis 1910 findet sich der Eintrag: »Marie Goslich, Frl. Schriftstellerin und Redakteurin«. Eine solche Berufsbezeichnung war damals für eine Frau mehr als ungewöhnlich. Noch ungewöhnlicher war ihre Arbeit als eine der frühesten professionellen Fotografinnen. Mit 44 Jahren, so schreibt ihre Biografin Krystyna Kauffmann, eignete sich Marie Goslich (1859–1936) die damals aufwendige Technik des Fotografierens an. Nach dem frühen Tod der relativ wohlhabenden Eltern war sie zunächst in »Haushaltsführung « ausgebildet worden, um nach dem Besuch eines der üblichen Mädchenpensionate als Erzieherin und Privatlehrerin zu arbeiten.

Durch ihre Arbeit als Redaktionsassistentin im Verlag der »Preußischen Jahrbücher« kam sie zum Schreiben. Sie veröffentlichte in Berliner Tageszeitungen und Illustrierten. 1905 ist das Jahr ihrer ersten mit eigenen Fotografien illustrierten Veröffentlichung, einer dreiteiligen Reportage über den Spreewald. Bald reichte es ihr nicht mehr, ihre Texte zu illustrieren, sie suchte beim Fotografieren nach eigenem Ausdruck und technischer Könnerschaft. Sie blieb den vertrauten Landschaftsaufnahmen und Genrebildern treu, wobei ihr Aufnahmen von seltener Schönheit und Konzentration gelangen. Darüber hinaus entdeckte sie bei ihren Reportagestreifzügen unbeachtete Winkel und in ihr Tun versunkene Menschen. Besondere Aufmerksamkeit widmete Goslich Frauen bei der Arbeit, wobei ihr die Anmut der Menschen wichtig war und die Würde der Arbeit, nicht deren Schwere. Goslich machte eigenwillige Aufnahmen von städtischem Verfall, von Hinterhöfen, von Modernisierungsarbeiten. Ihre Fotografien berühren heute als Zeitdokumente ebenso wie als fotografische Kunstwerke.

Obwohl sie für die damalige Zeit modern lebte – sie wollte trotz ihrer Ausbildung als »höhere Tochter« einer sinnvollen Arbeit nachgehen, heiratete spät, trennte sich bald wieder von ihrem Mann und adoptierte dessen inzwischen von einer anderen Frau geborenen Sohn –, blieb sie gedanklich der Monarchie und überkommenen Werten verhaftet. Nichtsdestotrotz beeindruckt ihre künstlerische Gestaltungskraft, berührt ihr Blick auf die Menschen und ihre Tätigkeiten.

Durch einen glücklichen Zufall sind 400 Fotoplatten erhalten, die in einem aufwändigen Verfahren restauriert und gescannt wurden. Einen Querschnitt von Marie Goslichs Werk zeigt der von Krystyna Kauffmann herausgegebene Bildband »Poesie der Landstraße«. Die Galerie Arbeiterfotografie ehrt diese frühe Kollegin jetzt mit einer sehenswerten Ausstellung (siehe jW vom 23.9.). Eine weitere Ausstellung unter dem Titel »Freude an der Natur« wird noch bis zum Samstag im Kulturbahnhof Caputh bei Potsdam (Alte Ladestraße) gezeigt. Und ab dem 18. November sind in ihrer Geburtsstadt Frankfurt/Oder an zwei Orten Fotografien von Marie Goslich zu sehen.

Heike Friauf


Siehe auch: Herbst 2010